Protektor – Leseprobe – Vorwort und Kapitel 1

Vorwort – was’n das hier überhaupt?

Vor einigen Jahren habe ich angefangen, einen lustigen Mystery-Roman zu schreiben. Ich fand ihn gut – wenig verwunderlich, ich find mich meistens toll. Aber auch meine Testleser fanden ihn gut, mein Literaturagent fand ihn gut und mehrere der Lektoren der insgesamt zehn deutschen Verlage, denen wir den Roman vorschlugen, fanden ihn gut genug, meinem Agenten in einer Mail mitzuteilen, dass sie sich köstlich amüsiert hätten.
Aber allesamt sagten ab, rausbringen würden sie ihn dennoch nicht. Die Begründung war bei allen gleich: Lustige Mystery „geht“ in Deutschland nicht. Mystery-Leser hätten keinen Humor (zumindest nicht, wenn es um Mystery-Stoffe ginge) und darum sehe man keinen Markt. Frühere Versuche mit der Materie hätten das gezeigt.
„Mystery-Leser haben keinen Humor“ … das hat man früher auch über Fantasy-Leser gesagt, und dann kam Pratchett (möge er in Frieden ruhen). Nun will ich damit keineswegs behaupten, Lektoren hätten mal so gar keine Ahnung oder meine Werke wären auch nur annähernd so kunstvoll gesetzt wie die Scheibenwelt-Romane.
Ich meine nur: In diesem Punkt irren sich die Lektoren. Ich habe mir daraufhin einige der lustigen Mystery-Romane angesehen, die in den letzten Jahren in Deutschland – offenbar nicht sehr erfolgreich – herausgekommen sind. Alle, die ich gefunden habe, sind entweder Persiflagen oder Satiren zu bekannten Horror-Stoffen, oft auf dem Niveau, auf dem sich auch Filme wie „Scary Movie“ bewegen, oder sie sind eine Ansammlung von aneinandergereihten Gags mit Vampiren. Keines der Bücher, auf die ich gestoßen bin, erzählt aber eine klassische Mystery-Geschichte.
Und das ist meiner Meinung nach das, was Pratchetts Bücher so besonders macht und was auch ich in diesem Roman versuche: Eine zum Genre passende, spannende Geschichte zu erzählen, aber eben auf eine komische und manchmal absurde Art und Weise.
Ob mir das gelingt, kannst nur Du, lieber Leser oder liebe Leserin entscheiden. Die folgenden Seiten sollen Dir dazu die Möglichkeit bieten. Aber Obacht: Das Werk ist bisher unvollendet.
Wenn Du sagst: „Jawohl, das finde ich gut, davon will ich den Rest lesen“, dann bitte ich Dich um Deine Unterstützung. Ich habe ein Crowdfunding zu Protektor ins Leben gerufen, über das ich das Buch selbst herausbringen möchte. Du findest es unter www.startnext.de/protektor
Bitte hilf mir, zu beweisen, dass die deutsche Mystery-Szene nicht humorlos ist und dass auch ungewöhnliche Bücher eine Chance haben.
Solltest du das hier lesen, nachdem das Crowdfunding abgeschlossen ist, dann kannst Du das Buch hoffentlich im Handel erstehen. Falls Du es dort oder auf meiner Homepage www.andrewiesler.de nicht findest, dann bin ich mit meiner Idee wohl gescheitert. Ich verspreche, dann auch nur ein ganz bisschen zu weinen und fast gar nicht zu schmollen.

Ich wünsche Dir viel Vergnügen mit den ersten Seiten von Protektor – Monsterjäger mit Sockenschuss. Wenn es Dir gefällt, empfiehl mich bitte weiter. Wenn nicht, lass mich wissen warum. So oder so danke ich schon jetzt für Deine Aufmerksamkeit.

Dein
André Wiesler

PS: Auf meiner Homepage wird es auch eine von mir und meiner Frau gelesene Hörbuch-Version von Teilen oder sogar der ganzen Leseprobe geben. Schau doch mal vorbei: www.andrewiesler.de

PPS: Dieses Manuskript hat noch kein echte Lektorat oder Korrektorat erfahren. Vereinzelte krumme Sätze oder Tippfehler bitte ich darum zu entschuldigen.

Protektor

Ein humorvoller Mystery-Roman von André Wiesler

Erstes Kapitel: Alte Freunde (Knöpfe + Newsletter)

Es war Samstagabend und ich saß in meinem Fernsehsessel. Auf der Mattscheibe überboten sich dicke alte Frauen darin, die Vorteile von Stützunterwäsche anzupreisen, und tatsächlich … vorher hatten sie einen dicken Bauch und danach hatten sie zwei dicke Bäuche, weil die eine Hälfte über der umbrafarbenen Strumpfhose herausquoll und die andere als kompaktes Paket bis auf die Oberschenkel gepresst wurde. Der Schauder des Ekels, der mich daraufhin erfasste, dauerte mehrere Sekunden.
Dass ich mir das überhaupt ansah war purer Faulheit geschuldet. Die Batterie in meiner Fernbedienung war, während ich im Eiltempo durch die Programme zappte, ausgerechnet in dem Moment ausgefallen, als ich einen der unzähligen Verkaufssender passierte.
Das Erschreckend-Anziehende hatte mich gepackt, wie bei einem Verkehrsunfall, bei dem man die Augen einfach nicht von der Blutwurst nehmen konnte, die mal ein Porschefahrer gewesen war, oder bei den zwei sich paarenden Schnecken in diesem komischen französischen Insektenfilm.
Die übertriebene Begeisterung der Verkäuferin war zudem das Höchstmaß an Lebensfreude, das in diesen Tagen meine trübe Kammer erhellte. Seufzend lehnte ich mich über den Rand des Sessels, um das Notebook vom Boden zu klauben. Es stand, fast wie in einer modernen Installation, auf dem schmutzigen Teppich, zwischen leeren Bierdosen, vertrockneten Single-Mahlzeiten und unkaputtbaren Cola-Light-Flaschen – ja, ich achte auf meine Linie. Ich trug übrigens ein weißes … ehemals weißes T-Shirt und kein Feinrippunterhemd, aber trotz dieses kläglichen Versuchs, das Klischee zu durchbrechen, war es wohl nicht zu verhehlen: Ich war Langzeitarbeitsloser. Seit dem heutigen Mittag. Will sagen: heute war der Schrieb vom Arbeitsamt eingetroffen. Entschuldigung, seit neuestem nennt sich dieser Verein von Arbeitsverhinderern ja Agentur … wollen wohl klingen wie die CIA, sind dabei aber so cool wie französische Lyrik. In dem Schreiben wurde mir jedenfalls mitgeteilt, dass ich ab dem nächsten Monat kein Arbeitslosengeld mehr, sondern Hartz IV beziehen würde.
Als wäre es Schicksal, hatte heute auch meine vor drei Monaten abgeschickte, letzte Bewerbung wieder im Briefkasten gesteckt, mit einem schicken Formbrief, bei dem unten der Pfad der Dokumentvorlage mit eingedruckt gewesen war: C:\Vorlagen\Bewerbungen\Absagen\Deppen_und_hoffnungslose Fälle.doc
Ich hoffte, ich war einer der hoffnungslosen Fälle … Wenn sie mich angestellt hätten, wäre ihnen so ein Fauxpas übrigens nicht passiert, denn ich war IT-Fachmann und Programmierer. Oder, wie meine Mutter immer sagte: »So ein Computerhansel.« Sie sagte es nicht ohne Stolz und Bewunderung der Unwissenden, aber es schwang auch immer das Bedauern mit, dass ich den Kurzwarenladen der Familie nicht hatte weiterführen wollen, als mein Vater in Rente ging. Ich dachte an den alten Kauz zurück.

Es ist 1984. Ich bin gerade sechzehn geworden und seit vier Wochen keine Jungfrau mehr, was wohl als Highlight der vergangenen Jahre angesehen werden muss, auch wenn sie fast zehn Jahre älter und fünfzig Kilo schwerer war als ich.
Mein Vater wird der Knopfkönig genannt. Das hat nicht etwa damit zu tun, dass er eine Märchengestalt wäre, auch wenn er aussieht wie eine Mischung zwischen dem bösen Wolf und dem Froschkönig. Er hat vielmehr im Großraum Köln-Düsseldorf-Wuppertal die umfangreichste Auswahl an Horn-, Plastik- und Metallknöpfen. Es ist wieder einmal einer dieser langen Neujahrstage, an denen ich volltrunken direkt von der Silvesterparty in den Laden komme, um an der Inventur teilzunehmen. Kaum bin ich drin und halte mich an der Vitrine mit den alten Schmuck- und Elfenbeinknöpfen fest, kommt mein Vater auch schon auf mich zugestapft. Er hat ein Klemmbrett vor sich, schaut darauf und sieht dann mit kaum verhohlener Vorfreude zu mir auf. Seine Oberlippe zuckt dabei, was wegen seiner großen Schneidezähne an einen Hasen beim Orgasmus erinnert.
»Klaus«, spricht er mich an. »Zähl du mich mal die Platt- und Schlupfknöpfe, Messing und Kupfer.« Ich habe es längst aufgegeben, seine Dschungelcamp-Grammatik zu korrigieren, beiße die Zähne zusammen und wappne mich, denn ich weiß, was jetzt kommt.
»Und dann kannste dich die eckigen Knöpfe vornehmen.«
Diesen Scherz macht mein Vater mit der Regelmäßigkeit einer Steuerprüfung und der Verlässlichkeit einer Zugverspätung jedes Jahr wieder. Es gibt im ganzen Laden natürlich keinen einzigen eckigen Knopf. Ich könnte an dieser Stelle über die Physik der Knopfform ins Detail gehen, wurde sie mir doch immerhin mit der Muttermilch eingetrichtert (oder eher Vatermilch, aber das klingt irgendwie anstößig), doch das erspare ich mir.
Er starrt mich Beifall heischend an und ich sage, einen Würgreiz unterdrückend: »Ha … örg … ha …«
Jetzt platzt es aus meinem Vater heraus, er lacht schallend, klopft erst sich auf die Oberschenkel und dann mir auf die Schulter, was mich beinahe zu Boden schickt, denn elf Pils machen in meinen Innereien ein paar Jägermeister zu Gejagten.
Während mein Vater sich noch immer vor Lachen ausschüttet, schlurfe ich zu meinem heutigen Arbeitsplatz und fange an, die in unzählige kleine Kästchen einsortierten Knöpfe zu zählen.
Das Telefon klingelt, und mein Vater verschwindet für eines seiner berüchtigten Beratungsgespräche in das Hinterzimmer, während ich bei den Messingschellen, Größe 1 (für Karneval etc. usw. o.ä.) angekommen bin. Die kleinen, glänzenden Dinger sehen lustig aus und ich wette mit mir selbst, wie viele davon ich herunterschlucken kann, bevor mein Vater wieder auftaucht. Ich schaffe 34, was jedoch nur daran liegt, dass wir nicht mehr auf Lager haben, soviel Stolz sei erlaubt.
Dann kommt mein Vater endlich wieder zum Vorschein. Er schüttelt den Kopf und sagt: »Das war sich die alte Schamutzke … wollte wissen, ob ich’n Radioknopf für sie haben tu.«
Das nun reißt mich, bierselig wie ich bin, in einen schellenklingenden Lachanfall, der Verstärkung von einem Schluckauf bekommt. Wenige Augenblicke später knie ich vor der Kloschüssel und übergebe mich so musikalisch, wie nie zuvor.

Unkaputtbare Mehrwegflaschen waren übrigens gar nicht unkaputtbar. Wenn man genug Langeweile, eine gesunde Missachtung für die eigene Gesundheit und eine Kochplatte hatte, auf die man verzichten konnte, bekam man sie kaputt. Oder wenn man kochendes Wasser hineinfüllte und sie in ein bereitstehendes Bad mit Eiswasser fallen ließ. Und auch ein Vorschlaghammer könnte ihnen sicher mit genug Fleiß den Garaus machen, aber den Beweis dafür bleibe ich bis auf weiteres wegen meiner übertrieben lärmempfindlichen Nachbarn schuldig.
Ich legte mir das Notebook auf den Schoss und klappte es auf. Kurz ging mir durch den Kopf, ob der Elektrosmog direkt über meinen Kronjuwelen an meinem Problem Schuld sein könnte, doch dann verwarf ich den Gedanken.
Sex mit sich selbst war immerhin noch besser, als gar kein Sex. Aber gar kein Sex hatte auch seine Vorteile. Man hatte mehr Zeit für andere Sachen.
Mein Lachen übertönte sogar den Trockenorgasmus der geriatrischen Verkäuferin, die gerade verkündete, dass die Unterwäsche in Hautfarben und Rosé bereits ausverkauft sei.
Das Letzte, was ich brauchte, war mehr Zeit. Ich wusste ja ohnehin kaum, wie ich die Tage herumbringen sollte. Die gängigen Opiate wirkten bei mir nicht sonderlich gut: Das Fernsehen bot mir keine Ablenkung, besaufen konnte und wollte ich mich nicht ständig und seit meine Beinahegattin mich vor fast neun Monaten verlassen hatte (da sind wir wieder beim Thema Sex und Potenz) konnte ich mich nicht mal mehr streiten.
Dabei war ich so motiviert gewesen, als ich rausgeflogen war. Ich hatte hunderte Bewerbungen verschickt, hatte mir vorgenommen, all die Bücher endlich mal zu lesen, die sich in drei Säulen neben meinem Bett stapelten (und die mittlerweile zur Standfläche meiner »Minibar« geworden waren). Ich wollte eine weitere Fremdsprache lernen, Yoga, Töpfern oder irgendwelche anderen VHS-Kurse belegen. Aber als die ersten paar Dutzend Absagen eingetrudelt waren, die drei Monate Bezugssperre wegen »eigenverschuldeter Kündigung« meine Ersparnisse aufgezehrt hatten und Olga (oben erwähnte Verlobte) sich aus dem Staub gemacht hatte, war der Elan recht schnell verloren gegangen.
Das Notebook brauchte lang, um einen aktiven W-LAN-Zugang zu finden. Meine Nachbarn hatten die unangenehme Eigenschaft, ihre W-LAN-Router immer auszuschalten, wenn sie nicht selbst online waren. Es war nachgerade ein Wunder, dass sie nicht auch die gesetzlich verordneten Energiesparlampen herausdrehten, wenn sie die Zimmer verließen. In meiner Lampe strahlten noch immer drei protzerische 100-Watt-Birnen mit der Sonne um die Wette. Sparte ja auf der anderen Seite wiederum erheblich Heizkosten.
Zum Glück wohnte unter mir ein Student, der die ganze Nacht über World of Warcraft zockte, so dass ich ab neun meist einen zuverlässigen Anschluss besaß. Sicher war das illegal, aber was sollte ich machen? Die Telekom hatte mir den Zugang abgeklemmt, nachdem ich einen ihrer Techniker gebissen hatte (nein, dafür gibt es keine Rückblende, das ist mir heute noch peinlich), und ich traute mich nicht, nachzufragen, weil er dann vielleicht Anzeige erstatten würde.
Während das Notebook endlich ein Netz fand und sich einloggte, nahm ich die zurückgeschickte Bewerbung noch einmal zur Hand. Sie war in der Mitte geknickt und an einer Ecke angestoßen, weil der Briefträger die Wut über seinen miesen Job und das schlechte Wetter immer an meiner Post ausließ. Vielleicht hätte ich auf seine Weihnachtsgrüße nicht antworten sollen: »Wollen Sie jetzt ein Trinkgeld? Bei der Menge an Post, die ich kriege, sollten sie lieber mir eines geben, immerhin bezahlt mein Porto ihr Gehalt.«
Der Knick verlief genau durch das Foto, das ich extra für die Bewerbungen hatte machen lassen, und der Mann darauf war nicht mehr der, den ich morgens im Spiegel sah. Zum einen war er rasiert und hatte kurzes, schwarzes Haar, das durch einen selbst eingefügten Photoshopeffekt leicht schimmerte. Das Gesicht zierte ein selbstsicheres Lächeln, bei dem sich keine von Bier und Fastfood aufgeschwemmten Wangen nach außen wölbten (kaschiert nur vom struppigen Bart) und das dunkle Jackett, das weiße Hemd und die schmale Krawatte ließen ihn souverän und zuverlässig wirken. Ich blickte an meinem T-Shirt hinab und zählte Flecken von elf verschiedenen Mahlzeiten darauf. Vielleicht sollte ich es mal wechseln.
Warum hatte dieser smarte Kerl da bloß keinen Job bekommen? Ich blätterte weiter und das Arbeitszeugnis meiner letzten Arbeitsstelle kam mir mit einem Vertigoeffekt entgegen, als stünde Hitchcock hinter der Gardine und riebe sich die Hände.
Es war, gelinde gesagt, miserabel, und dabei noch das Beste, was meine Anwältin hatte herausholen können. Dabei bin ich, das möchte ich vorausschicken, wirklich gut in meinem Job. So gut, dass mich die Arbeit bei Jongemann und Söhne, Damenhygiene Import und Export International einfach nicht mehr als drei Stunden am Tag beschäftigt hatte. Da hatte ich eben angefangen, mich anderweitig auszulasten. Es war vermutlich tatsächlich nicht das Schlauste gewesen, meine illegalen Downloads und meine Pornosammlung auf dem Firmenserver abzulegen. Oder über den Firmenanschluss mit meinem alten Schulkollegen Hannes in Südafrika zu telefonieren. Aber das waren andere Zeiten, damals.

Heute ist wieder ein besonders öder Tag, also lade ich eine Menge Krempel auf den Firmenserver hoch, während ich mit Hannes telefoniere, der mir die Vorzüge südafrikanischen Obstes schildert. Wenigstens hoffe ich, dass er von Obst spricht.
Die Uploads sind abgeschlossen und ich packe gerade die neuesten Downloadlinks in eine Rundmail, als mich die Gerhardt per Skype annervt. Ein kleines Textfenster erscheint mit dem Geräusch einer geöffneten Flensburgerflasche auf meinem Bildschirm und verkündet: »Lieber Klaus, es wäre supi, wenn du den Newsletter HEUTE noch rauschicken könntest. Kussi, Rita.«
Allein für dieses Supi sollte ich ihre Festplatte mal formatieren, aber bevor sie mich auch morgen noch damit nervt, schalte ich rasch um, programmiere den Newsletter zuende und schicke das Mistding raus. Dabei höre ich Hannes weiter dabei zu, wie er von »prallen, süßen Melonen« und »geilen, knackigen Äpfeln« spricht. Langsam werde ich misstrauisch…
Eigentlich will die Gerhardt den Newsletter noch mal gegenlesen, aber das ist mir heute zu stressig. Also haue ich das Ding einfach so raus.
Es vergeht ungefähr eine Viertelstunde, dann klingelt mein Telefon, intern, die Nummer der Gerhardt.
»Hör mal, Hannes, wir sprechen morgen …«
»Klar, kein Problem«, schnattert er mir ins Ohr und hat aufgelegt. Ich schaue den Hörer noch einen Augenblick an, dann nehme ich das andere Gespräch entgegen.
»Äh … Klaus …«, fängt sie an.
»Ja, Rita?«, frage ich und widerstehe dem Drang, das Telefon aus der Buchse zu reißen, über den Flur zu stürmen und sie mit der Schnur zu erdrosseln.
»Klaus … da scheint im Newsletter etwas mit dem Artikel elf EU Strich neun schief gelau…«
Ihre Stimme versagt und ich höre im Hintergrund lautes Stöhnen aus ihren Computerlautsprechern. Eis breitet sich in meinem Magen aus und ich rufe den Newsletter auf. 11-EU/9, was ist das noch mal?
Ah ja, hygienische Einmalhandschuhe, Einheitsgröße. Die sind neu im Programm, und irgendein Vollidiot hat sich gedacht, dafür bräuchte man eine Video-Anwendungsanleitung, weil die Leute ja nicht wissen, wie man beschissene Gummihandschuhe anzieht.
Ich klicke auf den Link und erstarre, als der Browser kurz nachlädt und dann ein Video abspielt, in dem zwar ebenfalls Handschuhe vorkommen und sie werden auch, im weitesten Sinne des Wortes, angewendet, aber die Art des Einsatzes entspricht mit den daran beteiligten Körperöffnungen wohl nicht den Vorstellungen meiner Chefin – oder der unserer 14.369 Kunden, die den Newsletter erhalten haben. Und ich sage Kunden, weil von denen 90% männlich sind. Warum die einen Newsletter zu Damenhygieneartikeln beziehen, will ich gar nicht wissen. Aber sicher ist: Ich bin am Arsch.

Die Staatsanwaltschaft stellte damals das Verfahren wegen Urheberrechtsverletzung gegen eine erhebliche Geldsumme ein, die geschädigten Film- und Softwarefirmen waren weniger genügsam. Unterm Strich blieben mir vom Arbeitslosengeld darum rund 500 Euro im Monat, von denen ich Miete, Essen und den Rest bezahlte. Kein großer Unterschied zu Hartz IV.
Ihr werdet verstehen, dass unter diesen Umständen der Drang, einer neuen, geregelten Arbeit nachzugehen, um dann lange, lange Jahre auch nicht mehr Geld zur Verfügung zu haben, schnell nachließ. Wenn man erstmal genug Selbstwertgefühl abgelegt hat, lebt es sich ganz erholsam am unteren Rand der Gesellschaft.
Ich pfefferte die Bewerbung in die Ecke und köpfte damit die Sonnenblume, die das letzte Bisschen Natur in meinem Wohnzimmer darstellte. Ich schreibe bewusst nicht »das letzte Bisschen Grün«, denn grün war sie schon lange nicht mehr, und außerdem gab es in meiner Spüle eine Menge pelzigen Belags in satten Grüntönen.
Endlich gab mein Notebook das ersehnte Ping von sich und ich war online. Sofort prasselten Skype-, Facebook- und Twitter-Nachrichten auf mich ein. Und überall kannte ich einige Dutzend interessante Leute.
Zumindest waren sie interessanter als auf die Wand zu starren, oder sich den Beleidigungen auszusetzen, welche die Fernsehsender Programm nannten.
»Wo warsn?«, wollte Hammer911 wissen, und ich berichtete ihm nicht ganz wahrheitsgemäß: »hab grad ne alte hier.«
Orthografie und vor allem Großschreibung hatte ich mir weitgehend abgewöhnt. Wenn dies hier jemals in einem Buch erscheinen sollte, hat sich vermutlich eine tapfere Lektorin bereits die gesamte Kauleiste daran ausgebissen, es in eine lesbare Form zu bringen.
»Geil?«, hakte Hammer911 nach, und ich schrieb nur knapp: »total!«, denn jetzt öffnete sich das Fenster von Julia_Love, die mir vorschlug: »Ich möchte dir schmutzige Sachen ins Ohr flüstern, während du kommst.«
So verlockend das auch klang, war es doch zu schön, um wahr zu sein, also korrigierte ich meinen Spamschutz nach. Die Hälfte der Fenster schloss sich daraufhin und ebenso viele Einträge verschwanden aus den Freundes-Listen der Programme.
»Das schon gesehen?«, fragte mich Honkomaster, zu dem ich eine locker-freundschaftliche Beziehung pflegte. Es folgte ein endlos langer Link zu YouTube, den ich anklickte, um einem Motorradfahrer dabei zuzusehen, wie er von der Straße abkam und mit dem Kopf in einem Pferdehintern landete. Ich antwortete mit einem lustigen Video, bei dem sich eine niedliche Cheerleaderin ein Bein brach. Ja, ich weiß, es heißt eigentlich nur Cheerleader, aber ich möchte verhindern, dass jemand auf die Idee kommen könnte, ich würde eine männliche Hupfdohle niedlich nennen. Dabei bin ich keineswegs homophob, muss aber das bisschen natürlichen Machismo, den die Natur mir mitgegeben hat, eisern verteidigen. Wenn ich nicht gut aufpasse, komme ich sonst noch im rosa Ballettkleidchen im Stadtpark wieder zu mir.
Der Abend ging also mit eitlem digitalen Smalltalk ins Land, bis mein Handy klingelte. Es war ein einfaches Prepaid, denn auch Telefon wollte mir die Telekom nicht geben. Guthaben war auf der Karte schon lange nicht mehr, anrufen konnte man mich jedoch auch weiterhin.
Die Nummer war unterdrückt, doch mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich seit drei Tagen mit niemandem mehr gesprochen hatte (also unter Zuhilfenahme meiner Stimmbänder) und so ging ich trotzdem dran.
»Ja?«
»Rate!«, rief eine begeisterte Stimme, die ich sofort wiedererkannte.
»Hannes?«
»Genau! Rate!«
»Du hast jetzt …«, setze ich an, aber ein Satz, den Hannes mich am Telefon zuende sprechen ließe, musste aus weniger als drei Silben bestehen.
»Ich bin im Land!«, sagte er. »Wir beide, heute Abend, Disse.«
»Ach, ich …«, versuchte ich all die wichtigen Dinge unterzubringen, die mich heute Abend banden. Der Chat mit Till Schweiger auf Pro7.de beispielsweise, denn ich wollte den Kerl schon immer mal fragen, ob Pinocchio ihn bereits verklagt hatte, weil er seinen hölzernen Schauspielstil abkupferte oder ob sich Kermits Anwälte gemeldet hatten, weil der Frosch seine Stimme wiederhaben wollte.
»Alter, morgen muss ich wieder weg. Also, heute!«
Ich wollte Hannes schon gern mal wiedersehen. »Ich habe gerade …«
»Geht alles auf mich!«
Das gab den Ausschlag. »Okay.«
»Ich hol dich um elf ab.«
»Ich warte unten.«
Hannes legte auf. »Hallo?«, fragte ich wider besseren Wissens, ließ das Handy sinken und erschrak, als ich auf die kleine Uhr im Computerbildschirm blickte: 22:00. Ich hatte nur noch eine Stunde, um zu duschen, mich umzuziehen und zwei Kilometer durch die Stadt zu laufen, denn ich würde Hannes ganz sicher nicht verraten, dass ich aus meiner schicken Eigentumswohnung in dieses Loch gezogen war. Ich würde ihn darum vor meinem alten Haus erwarten und hoffte, dass er einigermaßen pünktlich war, denn es war ziemlich kalt.

Zu Kapitel 2  –  Zum Crowdfunding

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