Zweites Kapitel: Rentnerinnenjagd (Lucy-Kurs)
Hannes war pünktlich. Er fuhr mit einem Wagen vor, den er vermutlich nicht bei Sixt bekommen hatte, es sei denn, man hatte dort jetzt tiefergelegte, rote Corvettes im Angebot, deren Soundanlage leistungsstark genug war, um die Scheiben in der ganzen Straße zum Vibrieren zu bringen.
Ich wartete hinter einem Kleinlaster, den ich als Windschutz genutzt hatte. Hannes fuhr erst einmal vorbei, um dann schlingernd und mit quietschenden Reifen zum Stehen zu kommen. Das Dröhnen treibender Karibikrhythmen ließ mir schon bei geschlossener Tür fast die Plomben schmelzen, trotzdem drückte Hannes mehrfach auf die Hupe, als wäre es auch nur entfernt denkbar, dass ich ihn noch nicht bemerkte hatte.
Ich öffnete die Tür, rief: »Hi!«, ließ mich in den viel zu tiefen Schalensitz fallen und drehte erstmal die Musik leiser. Gerade rechtzeitig, um ein erbostes: »Scheißekopfarsch, mache-su leise da unten!« von oben zu hören. Das war Vater Gönüleri, der vermutlich die orientalische Musik nicht mehr hören konnte, die bei ihm Tag und Nacht dudelte. Ich hatte früher unter den Gönüleris gewohnt und schon nach drei Wochen Klassiker wie »Sana Söz« und »Katula, Katula« mitsingen können.
Hannes nickte mir zu, wobei sein bretthart nach hinten gegeltes Haar sich nicht ansatzweise bewegte, ebenso wenig wie der steif hochgewichste, breite Schnurrbart, der Federohrring im Ohr dafür aber umso wilder baumelte.
»Alles klar?«, fragte ich.
»Ja«, sagte er. »Selbst?«
»Muss«, gab ich zurück. »Bronko?«
»Funkpalast«, korrigierte er meine Zieleinschätzung und gab Gas. Zwanzig Minuten auf der Autobahn rasten in Stille an uns vorbei. So redselig Hannes am Telefon war, so maulfaul gab er sich im direkten Gespräch.
Erst als wir abfuhren und Hannes zum Tanken anhielt, warf er mir einen Seitenblick zu und sagte: »Siehst scheiße aus.«
Ich zuckte mit den Schultern und er stieg aus, beugte sich dann aber noch mal durch die offene Tür hinein: »Hättest dich ja wenigstens mal rasieren können.«
»Dito«, gab ich zurück, was mir einen Mittelfinger einbrachte. Ich klappte die Sonnenblende herunter und musterte mich in dem Spiegel, der erstaunlich groß ausfiel. Vermutlich für die Ischen, die man in so einem Wagen mit größter Wahrscheinlichkeit auf dem Beifahrersitz vermuten durfte.
Der Bart war tatsächlich ein bisschen wild gewuchert, und der Versuch, ihn unter Zeitdruck mit der Küchenschere zu stutzen, hatte das Gesamtbild nicht aufgewertet. Direkt am Kinn klaffte jetzt eine große Schneise und links war der Bart erkennbar länger als rechts. Ich wuschelte hindurch, in der Hoffnung, dem Gestrüpp einen verwegenen Look zu verpassen, aber es war vergebens. Dann legte ich den Kopf schräg und tatsächlich wirkte der Bart nun gleichlang – dafür aber mein Gesicht schief. Das brachte auch nichts.
Hannes riss die Tür auf und ließ sich in den Wagen fallen. »Lippenstift auffrischen?«, kommentierte er das Bild, das sich ihm bot.
»Sehr witzig«, gab ich zurück. »Warum bist du eigentlich so bleich?«
Für jemanden, der sein Leben praktisch am Äquator verbrachte, sah er ziemlich käsig raus.
»Tod«, sagte er, startete und preschte los.
Es war ein wenig verwunderlich, dass ich die Argumentationskette, die sich hinter diesem einen Wort verbarg, noch immer verstand, obwohl wir uns seit über einem Jahr nicht mehr gesehen hatten.
Der Gedankengang war folgender: Hannes hatte Angst, von der gleißenden afrikanischen Sonne, der er aufgrund der Weingüter seines Vaters sein Vermögen verdankte, Hautkrebs zu bekommen und eines qualvollen Todes zu sterben, darum hielt er sich von der Sonne fern und war so bleich. Die Angst vor wuchernden Zellen hinderte ihn aber nicht daran, zu rauchen, zu saufen und dem Begriff Promiskuität eine ganz neue Dimension zu geben. Wir erreichten nach einigen weiteren Schweigeminuten den Parkplatz der Disko, wo Hannes zwei Kleinwagen abdrängte, den Motor ordentlich aufheulen ließ, um das Weibsvolk auf sich aufmerksam zu machen, und dann schwungvoll auf eine Parklücke zupreschte.
Er wandte sich mir zu und sagte mit bedeutungsschwerer Stimme: »Negerfrauen sind der Hammer!«
Bevor ich ihn darauf hinweisen konnte, dass seine Aussage ebenso politisch unkorrekt wie frauenfeindlich war und zudem völlig unmotiviert war, tauchte plötzlich eine alte Frau direkt vor der Motorhaube auf.
»Brems!«, befahl ich und Hannes stieg in die Eisen, aber zu spät. Die kleine Gestalt wurde auf die niedrige Motorhaube geschaufelt, rutschte bis zur Scheibe, wo sie kurz antitschte, um dann langsam, aber unaufhaltsam wieder herunter auf den Asphalt zu gleiten.
»Scheiße!«, sagte Hannes. »Der Lack!«
Ich starrte ihn entgeistert an, sah wieder nach vorne, wo nur noch ein in gestreifte Socken gehüllter Fuß zu sehen war, der sich an der Stoßstange verfangen hatte, und dann wieder zu ihm.
Gleichzeitig stiegen wir aus, ich lief nach vorne zu der am Boden liegenden Frau, Hannes fuhr mit der Hand über seine Motorhaube, um nach Beulen und Kratzern zu suchen. Er wurde offensichtlich fündig, denn während ich hilflos neben der Frau auf die Knie sank, murmelte er: »Das zahlt die Schlampe!«
Die alte Frau lag auf dem Rücken, die Beine unzüchtig gespreizt, und ihre zahlreichen Röcke waren weit hochgerutscht. Weit genug, um mir zu zeigen, dass ihre Strümpfe halterlos waren und an rosa Strapsen hingen.
Scheiße, wir haben Pippi Langstrumpf überfahren, schoss es mir durch den Kopf, während ich den Blick langsam nach oben wandern ließ, über mehrere alte Hemden, die eine zum Teil falsch zusammengeknöpfte Masse bildeten, bis zu ihrem Gesicht. Die gute Nachricht war, dass ihr Gesicht nicht zerkratzt oder eingedrückt war; die schlechte, dass es sie nur hätte schöner machen können.
Eine riesige, krumme Nase mit einer fetten Warze darauf schob sich aus einem Faltenmeer. Der Mund mit schmalen, blassen Lippen war weit genug geöffnet, um schiefe, verfaulte Zähne zu offenbaren. Die buschigen Augenbrauen wucherten so wild, dass nur die drei langen, schwarzen Haare länger waren, die aus einer Warze an ihrem Kinn wuchsen. Sie waren dick wie Spinnenbeine und schienen bei jedem der schwachen Atemzüge der Alten zu zucken. Die faltigen Lieder waren geschlossen, aber so flach, dass man glauben konnte, die Frau habe keine Augen im Kopf.
Passt ja, so wie die vors Auto gerannt ist, dachte ich.
Plötzlich röchelte die Alte und die Spinnenbeine tanzten nicht mehr.
»Hannes!«, rief ich erschrocken. »Die atmet nicht mehr.«
»Was? Ne!«, rief er besorgt. »Wenn die abkratzt, kann ich das selbst löhnen! Mach was!«
»Bin ich Jesus? Kann ich heilen?«, gab ich gereizt zurück und hob die Hände, um ihm zu zeigen, dass sie keine Löcher hatten. »Was soll ich denn machen?«
»Mund-zu-Mund-Beatmung«, sagte eine Stimme hinter mir und als ich erschrocken herumwirbelte, sah ich eine kleine Traube Schaulustiger, die sich um uns versammelte.
»Nein!«, entfuhr es mir entsetzt.
»Lassen Sie mich durch!«, rief da zu meiner großen Erleichterung jemand und arbeitete sich nach vorne vor. »Lassen Sie mich durch, ich bin Arz…« Jetzt hatte er den Unfallort erreicht, sah die Alte am Boden liegen und verstummte mitten im Wort. »Lassen Sie mich durch, ich bin spät dran!«, fuhr er nach einem kurzen, beschämten Blick zur Seite fort, stieg über die Bewusstlose und drängte sich auf der anderen Seite mit umso größerer Vehemenz durch die Reihen der Gaffer. »Lassen Sie mich durch!«, rief er erneut und klang jetzt panisch.
Während ich dem Verpisser entgeistert nachsah, verkündete eine dicke Frau mit Kennermiene: »Gleich isse hin!«
»Klaus, mach voran!«, drängte mich Hannes.
In Notsituationen neigte ich dazu, zu tun, was man mir sagt, also nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und drehte mich der Alten wieder zu. Sie hatte eine alte Wunde am Kinn, aus der dicker, gelber Eiter lief, so dass ich nicht wusste, wo ich hinpacken sollte, um ihren Kopf zu überstrecken, wie ich es damals gelernt hatte.
Es ist ein schöner Sommertag, den man eigentlich im Freibad oder im Park verbringen sollte, vor allem, wenn man gerade achtzehn geworden und verliebt ist. Na gut, scharf ist … auf Lucy Trümmer, die nicht nur einen Namen wie eine Pornodarstellerin hatte, sondern auch die passende Figur. Sie hatte mich in der Woche zuvor gefragt, ob ich nicht an einem Erste-Hilfe-Kurs mit ihr teilnehmen wollte.
»Mund-zu-Mund-Beatmung? Brustmassage?«, fragte ich wenig subtil.
Sie lachte, warf das lange Haar zurück und sagte: »Das heißt glaube ich anders, aber so was, genau.«
Darum bin ich nun hier, Lucy sitzt neben mir, im kurzen Rock und bauchfrei, und der Kurs beginnt. Zuerst ist er recht interessant, dann wird es langweilig, es folgt öde und schließlich ist es unerträglich. Darum weckt mich die Verkündung des Kursleiters, eines bebrillten, dicken Johanniters, dessen weißes Hemd gute drei Nummern zu klein ist, aus einem unruhigen Halbschlaf: »Dann wollen wir das jetzt mal praktisch versuchen.«
Sofort bin ich hellwach, gebe vor, mir die Schuhe zubinden zu müssen, checke unter dem Tisch rasch noch einmal meinen Atem und werfe einen vorfreudigen Blick auf Lucys Oberschenkel. Als ich wieder hochkomme, lässt der Malteser Mops gerade einen Plastiktorso auf den Boden fallen.
»So, das ist der Otto.« Er lacht, als wäre an diesem ausdruckslosen Stück Plastikschrott irgendwas komisch. »so nennen wir den hier. Also, wer will anfangen?«
Ich hebe langsam, wie ferngesteuert die Hand. »Ja, äh …« Ein Blick auf die Teilnehmerliste. »Karl?«
»Klaus!«, korrigiere ich wie in Trance und frage: »Was soll denn der Scheiß?«
Das bringt ihn aus dem Konzept. »Bitte?«
»Da, der Typ, das Otto … wofür soll das gut sein?« Langsam vertreiben Wut und Enttäuschung das Entsetzen.
»Na …« Er sieht sich um, als warte er auf ein Stichwort von den anderen Kursteilnehmern, die mich anstarren. Als keines kommt, sagt er: »Daran üben wir die Mund-zu-Mund-Beatmung und die Herz-Lungen-Massage.«
»Nein!«, rufe ich lauter als beabsichtigt und blicke in Lucys Ausschnitt hinab. »Wer braucht denn schon so einen Technikdreck? Kampf der Automatisierung! Computer töten Arbeitsplätze.« Mit jedem Wort bin ich lauter geworden.
Der Dicke kommt auf mich zu und gibt mir eine Ohrfeige. Ich sacke verblüfft auf meinen Stuhl zurück und reibe mir die schmerzende Stelle.
»Das muss man manchmal machen«, erklärt er dem Raum, »wenn jemand hysterisch wird.«
Ich gucke Lucy an, aber die rückt von mir weg. Wie es aussieht, bleibt Otto heute mein einziger Sexualkontakt.
Die Alte atmete noch immer nicht. Ich musste mich beeilen, also schlang ich mir kurzentschlossen die Haare der Warze um die Finger, zog das spitze Kinn daran nach unten und presste, bevor ich es mir anders überlegen konnte, den Mund auf die sich öffnenden, schmalen Lippen der Frau.
Im selben Moment, wo ich ihre kalte, vor Trockenheit knisternde Haut berührte, schnellten ihre Arme hoch, packten mich im Nacken und sie verwandelte die Lebensrettungsmaßnahme in einen leidenschaftlichen Kuss. Von ihrer Seite leidenschaftlich vor Wollust, von meiner leidenschaftlich vor Ekel. Ihre dicke, viel zu lange Zunge presste sich in meinen Mund und zuckte darin umher wie ein sterbender Aal.
Endlich schaffte ich es, ihren grotesk starken Griff zu lösen und rutschte zurück, aber sie bekam mich an den Haaren zu fassen und zog mein Gesicht wieder über ihres. Ihre Augen flatterten auf und glühten in einem unirdischen, pulsierenden Blutrot.
»Du wirst leiden, für die Welt, an der Welt, in der Welt«, raspelte sie mit rauer Stimme, die viel zu dunkel für ihre schmale Gestalt war. »Leiden, für das Gute, am Bösen, im Raum zwischen dem, was nicht sein darf und was sein muss.« Aus ihrem Mund strömte mir eine eisige Kälte entgegen, so dass mein eigener Atem zu Wolken gefror.
»Scheiße, hast du einen Mundgeruch«, entfuhr es mir. Da lachte sie wie eine Irre und ließ mich los. Während ich zurückwich und würgend ausspuckte, sprang sie mühelos auf die Beine, trat im Vorbeilaufen den Scheinwerfer der Corvette ein und war im Nu im Dunkel der hinteren Autoreihen verschwunden.
»Was soll das denn?«, fragte Hannes.
Ich winkte ab, spuckte erneut aus und hob die Hand zur Wange. Dort, wo ihr Atem mich berührt hatte, lag eine dünne Eisschicht auf meiner Haut, die verschlungene Symbole zu bilden schien. Es lief mir kalt den Rücken herunter.
Die Umstehenden murrten enttäuscht, weil nun doch keiner starb und die Menge löste sich langsam auf. »Und dafür frier ich mir hier den Arsch ab …«, hörte ich es leise aus den hinteren Reihen klingen.
»So eine Hexe!«, sagte Hannes, und wenn ich damals geahnt hätte, wie richtig er damit lag, hätte ich ihm allein dafür in die Eier getreten.