Protektor – Leseprobe – Kapitel 6

Sechstes Kapitel: Kinderbesuch (Damenbesuch)

Ich konnte es kaum fassen. Zum zweiten Mal an zwei Tagen zerrte mich eine willige Frau in ihre Wohnung und das ließ mich die 60 Euro »erhöhtes Beförderungsentgeld« vergessen, für die in Kürze eine Rechnung eintreffen würde.
Dass es diesmal wirklich ihre eigene Wohnung war, überprüfte ich mit einem ausgiebigen Blick auf die Türklingel. Elsbeth reagierte etwas irritiert, als ich sie auch noch fragte, ob sie wisse, wo in ihrer Wohnung die Küche sei, aber der anschließende leidenschaftliche Kuss besänftigte sie.
Ich hatte unterdessen zwei Theorien entwickelt, die ich für gleichermaßen wahrscheinlich hielt. Die eine drehte sich um einen überraschenden Schlaganfall wegen fernsehinduzierter Hirnüberhitzung, der mich ins Koma geschickt und mir diese unrealistischen Träume von Erfolg bei den Frauen bescherte. Die andere war eine Mischung aus Big Brother und Versteckte Kamera, bei der jeden Moment Paola Felix und Frank Elstner gemeinsam aus dem Kleiderschrank springen und »reingelegt« rufen würden.
Aber da ich ohnehin nichts daran ändern konnte, beschloss ich es so lange zu genießen, wie es eben währte. Vielleicht waren es die Nahtoderfahrungen der letzten Stunden oder die viele unfreiwillige Bewegung, aber als ich nun Elsbeth übermütig auf die Arme hob, machte mir mein Rücken keinerlei Probleme.
Ihre Wohnung hatte Schick, ich aber nur Augen für ihren Ausschnitt. Sie strampelte die Pumps ab und ich warf sie aufs Bett, mich hinterher und wenig später waren wir dabei, uns gegenseitig aus den Klamotten zu schälen. Elsbeth ging recht rigoros zur Sache, was meinem Lachshemd mit den dünnen Nähten den Garaus machte, aber das war mir egal. Sie roch gut, fühlte sich noch besser an.
Ich strich mit der Hand über ihren Rücken und sie lachte leise. »Das kratzt aber! Arbeitest du auf dem Bau?«
Ich überging diese Unterstellung, warf sie auf den Rücken und küsste sie leidenschaftlich, ließ meine Lippen ihren Hals hinabwandern bis zwischen ihre Brüste, die ich umfasste, mir ins Gesicht drückte und Motorbootgeräusche nachahmte.
Als die runden Hügel sich wieder senkten und meinen Blick freigaben, stand ein kleines Mädchen neben dem Bett. Sie trug ein weißes, irgendwie altertümlich wirkendes Kleid mit rosa Schleifchen daran und hielt eine Puppe mit Porzellankopf im Arm. Sie sah mich aus großen, blauen Augen an und mein Herz setzte einen Schlag aus.
»Äh …«, sagte ich, als Elsbeth ungerührt zwischen meine Beine fasste. »Kinder?«
Elsbeth sah mich erstaunt an, dann lachte sie und sagte: »Gummis sind im Nachtschränkchen. Aber ich hätte schon gern noch ein bisschen Vorspiel.«
»Nein«, sagte ich, die Augen noch immer unverwandt auf das kleine Mädchen gerichtet, das keine Armeslänge von mir entfernt stand. »Da … deine Tochter.« Ich wies mit dem Finger auf das Kind, das mir freudig zuwinkte.
Jetzt stutzte Elsbeth und folgte meinem Fingerzeig; sah zu mir hoch. »Was wird das denn jetzt?«
»Das könnte ich dich ja wohl eher fragen«, gab ich zurück und richtete mich auf die Knie auf. Es war plötzlich sehr kühl im Schlafzimmer und ich trauerte meinem zerfetzen Hemd nach. »Meinst du, ich … also mit einem kleinen Mädchen neben dem Bett?«
»Ach so, du stehst auf Rollenspiele, was?«, sagte sie und ihre Züge erhellten sich wieder. »Ja, Papa, ich war ganz unartig. Ich muss bestraft werden.« Sie steckte den Zeigefinger in den Mund und blickte mich mit einem lasziven Augenaufschlag an.
»Bist du besoffen?«, fragte ich entgeistert.
»Hey, jetzt bleib mal geschmeidig, ja?« Sie klang nun deutlich verärgert. In diesem Moment kam ein Junge ins Zimmer, um die zwölf Jahre, und er steckte in einem kurzbeinigen Matrosenanzug. Auch er winkte mir stumm zu.
»Noch ein Kind. Sag mal, was bist du denn für eine Mutter?«
»Was redest du denn für einen Schwachsinn? Ich habe überhaupt keine Kinder.« Sie zog den Träger ihres Kleides wieder hoch und kniete sich nun ebenfalls hin.
»Und wem gehören die beiden dann?«, fragte ich und wies auf die Kinder. Der Junge war unterdessen zu seiner Schwester hinübergegangen und legte den Arm um sie. Die beiden waren ziemlich bleich.
Sie folgte meiner Geste und schüttelte den Kopf. »Du hast doch echt einen an der Waffel.«
»Entschuldige bitte, dass ich mir Sorgen um die Psyche der kleinen Scheißer mache!«, rief ich erbost.
»Hast du Hallus, oder was? Da ist keiner!«
Ich blickte sie an, sah auf die Kinder, die wie auf Stichwort stumm winkten, und dann wieder auf Elsbeth. Die Alte war völlig bescheuert. Sie wollte es vor ihren Kindern treiben und ich sollte so tun, als seien sie nicht da? Wer wusste, wie oft die das schon gemacht hatte. So verstört und bleich, wie die Kinder aussahen, sicher schon einige Male. Wut klumpte meine Eingeweide zusammen.
»Du verrückte Schlampe!«, rief ich ihr zu und stand auf. »Das melde ich dem Jugendamt.«
»Ey, auf welchem Tripp bist du denn?«, fragte sie, aber jetzt mischte sich Unsicherheit in ihre Stimme. Klar, sie hatte Schiss vorm Amt. Die würden die armen Kleinen gut unterbringen.
»Ich komme wieder!«, versprach ich ihr. »Und dann kannst du was erleben!«
Sie beugte sich zur Seite und zog einen Baseballschläger neben dem Bett hervor. »Verpiss dich, du irres Arschloch!«, kreischte sie und schlug nach mir. Ich konnte dem Hieb gerade eben noch ausweichen, so dass er nur die Nachttischlampe erwischte und zerdepperte. Und erneut war ich auf der Flucht. Ich schaffte es, meine Jacke aufzulesen und zur Tür hinauszusprinten, bevor der Basi dagegenkrachte. Dann hörte ich sie diverse Schlösser vorlegen.
Da stand ich nun, mit nacktem Oberkörper unter meiner alten Jacke und wischte mir mit der Hand über die Stirn. Dabei kratzte mich etwas schmerzhaft. Verwundert blickte ich in meine Handfläche und stöhnte erschrocken auf. Dort wucherte ein großes, schwarzes, verschorftes Muttermal, das heute Morgen noch nicht dagewesen war. Ich umklammerte mein Handgelenk und streckte die Hand weit von mir, als könnte ich das Unding damit verschwinden lassen. Einige dunkle Haare wuchsen daraus hervor und ließen mich an die Ermahnungen meines Vaters denken. »Und blind wir’sse man auch davon, Jung!«, klang es in meinem Ohr nach.

Intellektuell kann man vielleicht darüber streiten, aber körperlich bin ich definitiv ein Frühentwickler. Während alle meine Freunde noch mit Playmobil und Big Jim spielen, spiele ich viel lieber mit meinem Little Jim, und das, wann immer ich ungestört bin. Leider hat meine Mutter eine Ausbildung beim Geheimdienst des Vatikans absolviert, wie sonst wäre es zu erklären, dass es in unserem Haushalt nicht eine einzige spärlich bekleidete Frau gibt? Nicht mal den Ottokatalog kriege ich in die Finger, von den Bild-Nackedeis ganz zu schweigen und eine Fernsehzeitung haben wir auch nicht. Mir bleibt also nur die Fantasie, und die hat herzlich wenig Vergleichsmöglichkeiten, denn die einzigen Frauen, die ich nackt gesehen habe, sind meine Oma und meine Mutter, und bei allen Hormonen … nein danke.
Darum trifft mich förmlich der Schlag, als eines Tages eine alte Schulfreundin meiner Mutter mit ihrer ganz und gar nicht alten Tochter in der Tür steht. Im direkten Vergleich mit ihren Cowboystiefeln, der Jeans-Hotpants und dem hautengen, bauchfreien »Legalize!«-T-Shirt, wirkt meine Mutter in ihrer Kittelschürze umso schlimmer. Die Perle ist etwa siebzehn und damit vier bis fünf Jahre älter als ich.
»Das isset Ilse mit ihrer Greta. Die woll’n wohl heuer mal bei uns übernachten«, erklärt meine Mutter.
Ich gebe ein Geräusch von mir, das an die letzten Laute eines strangulierten Hasen erinnert, aber der Blick, den mir Greta daraufhin zuwirft, ordnete mich eher im Bereich der Asseln oder Schneckentiere ein.
»Trach schoma die Taschen im Gästezimmer«, verlangt meine Mutter und ich komme der Aufforderung gerne nach, bringt es mich doch näher an dieses engelgleiche Geschöpf heran, das sich nun mit einer Hand durch die langen blonden Haare fährt und dabei einen prächtigen Achselhaarbusch offenbart.
Ich lade mir das schwere Gepäck auf, unterdrückte dabei nur mühsam ein entsetztes Stöhnen, und wuchte alles in die Rumpelkammer, in der meine Mutter zwei Klappbetten aufgestellt hat, was sie offenbar zum Gästezimmer macht.
Wenig später sitzen wir am Abendbrottisch, und während meine Eltern und Ilse sich prächtig amüsieren, starrt Greta mich grimmig an. Das ist insofern doppelt schlimm, als ich darum stets bemüht bin, ihr nicht auf die Brüste zu blicken. Es gelingt mir etwa die Hälfte der Zeit, was für einen pubertierenden Jungen ein verdammt gutes Ergebnis ist, wie ich finde.
Greta tritt mich unterm Tisch gegen das Schienbein, als ich gerade ein Glas Milch ansetze und ich verschlucke mich so sehr, dass ich ihr nicht nur die Milch mitten ins Gesicht pruste, sondern gleich darauf gerade noch ins Bad flüchten kann, bevor ich mich übergebe. Während der Standpauke meiner Mutter, die mir schon Tausendmal gesagt haben will, dass ich nicht so schlingen soll, sieht Greta sehr zufrieden mit sich aus. Aber diesen Triumph gönne ich ihr, denn meine Milch hat ihr Oberteil halb durchsichtig werden lassen. Ich versuche diesen Anblick auswendig zu lernen, verwerfe die mühsam gebüffelten Lateinvokabeln für die Klausur am nächsten Tag, um mehr Platz für geistige Nacktfotos in meinem Kopf zu machen.
Wie erwartet muss ich zur Strafe früh ins Bett, aber das ist mir sehr recht, denn während die »Großen« sich unterhalten und vermutlich ordentlich picheln, nutze ich die frische Erinnerung, um den Pfadfindern Konkurrenz im Zeltbau zu machen.
Plötzlich höre ich, wie nebenan die Dusche angeht. Ich spüre, wie sich mein Puls beschleunigt und lausche angestrengt.
»Bei’m Knopf an und für sisch, da isset ja die Form«, sagt mein Vater.
»Ach Vatter, jetzt komm mich doch nich immer mit’de Knöpp.« Meine Mutter.
»Lassen doch, ich finnet janz inneressant.« Das war Ilse, was nur eine Person übrig lässt, die da nebenan gerade nackt unter der Dusche steht.
Wie ferngesteuert stehe ich auf und schleiche auf den Flur. Die Milchglastür zum Wohnzimmer ist geschlossen, dahinter wird Gelächter laut, als die Alten mit einem Trinkspiel anfangen. Ich stehe geschlagene zehn Sekunden unschlüssig vor der Badezimmertür. Auf der einen Seite will ich kein notgeiler, gruseliger Spanner sein, auf der anderen Seite hätte ich am Montag in der Schule etwas zu erzählen, für das mich jeder meiner Klassenkameraden beneiden würde. Mit Ausnahme von Gerhard. Der guckt beim Umziehen nach dem Sport immer so komisch, der ist bestimmt schwul. Dessen Vater ist ja Kommunist, daher kommt so was, sagt mein Vater.
Das Schloss an unserer Badtür ist seit Wochen kaputt, denn wenn es nicht um Knöpfe geht, ist mein Vater eine handwerkliche Niete, aber auch zu geizig, einen Fachmann zu bezahlen.
Und so schleiche ich mich hinein, schließe die Tür leise und sehe Greta unter der Dusche stehen, eine deutliche Silhouette auf dem mattweißen Duschvorhang. Der Anblick ist zuviel für meine ohnehin wacklige moralische Basis und ich komme zur Sache.
Nach einigen Augenblicken, in denen ich, die Hand in der Schlafanzugshose, versucht habe, möglichst leise zu keuchen, schießt mir plötzlich ein stechender Schmerz durch das Ohr. Ich erstarre in der Bewegung, erschlaffe an anderer Stelle und sehe meinen Vater mit hochrotem Kopf über mich gebeugt. Er zieht mich am Ohr aus dem Badezimmer und in mein Zimmer. Als auch dort die Tür hinter uns geschlossen ist, brüllt er mich in Zimmerlautstärke an: »Kind, bisse eigentlich plemplem? Davon krisse Gicht und Rückenmarksschwund. Und dir wachsen Haar inne Hände. Und blind wir’sse man auch davon, Jung!«
Ich senke schamerfüllt den Kopf. Was er da erzählt, ist natürlich Schwachsinn, das habe ich in der Bravo beim Tom gelesen. Trotzdem bin ich nicht stolz darauf, beim Taschenbillard erwischt worden zu sein. Aber hätte er nicht ein paar Augenblicke später reinkommen können?
Mein Vater hält mir eine Standpauke über Respekt und Anstand und sperrt dann meine Zimmertür von außen ab. Da erst fange ich an, mich zu fragen, was er mit seiner Fotokamera im Bad wollte …

Ich berührte das unförmige Ding in meiner Handfläche vorsichtig mit dem Zeigefinger und es war rau und schorfig und als ich daran zog, schoss ein unsäglicher Schmerz durch meinen Unterarm, der mich auf die Knie schickte.
»Ich muss ins Krankenhaus«, erzählte ich dem leeren Flur. Durch die geschlossene Tür hörte ich Elsbeth rufen: »Wohl eher in die Klappse, du Scheißkerl. Verpiss dich, oder ich schlag dir den Schädel ein.«
»Irres Weib«, rief ich zurück, aber als sie begann, die Schlösser wieder zu entriegeln, stand ich eilig auf und floh.

Der Vollmond stand groß und voll über dem Krankenhaus. Ich war ziemlich erschöpft, denn noch immer ohne Geld musste ich zu Fuß herlaufen. Doch ich hatte Glück im Unglück – das St. Gallen hatte Aufnahme heute Nacht. Eine gelangweilte Nonne am Empfangsschalter wies mir den Weg zur Ambulanz, wo ich mich artig an der Aufnahme anmeldete.
»N’abend. Was haben wir denn für ein Leiden?«, fragte mich ein junger Pfleger, dem Namensschild nach Robert Klein.
»Klaus Holger mein Name. Ich weiß auch nicht, ein Geschwür oder so«, berichtete ich ihm und sah mich im Wartezimmer um. Ein alter Mann saß, offensichtlich stockbetrunken, auf einem der Stühle, auf der anderen Seite saß ein junges Pärchen, sie den Fuß hochgelegt und mit kalten Kompressen umwickelt.
Im Flur, der abführte, gab es laute Rufe und Tumult. Offensichtlich ein weiterer Betrunkener. Mein Blick wurde immer wieder dorthin gezogen.
»Ein Geschwür. Und damit kommen sie mitten in der Nacht in die Notaufnahme?«
Ich zuckte die Schultern. »Das war gestern noch nicht da«, erklärte ich und hielt es dem Pfleger hin. Der verzog das Gesicht und sagte: »Ne, hübsch. Na, dann füllen Sie das hier mal aus und nehmen Sie Platz.«
Er reichte mir ein Klemmbrett und wies grob in Richtung der Stühle. Der Alte grunzte wohlig im Schlaf und wenig später plätscherte es leise von seinem Stuhl herab, also orientierte ich mich näher zur anderen Seite.
Der Tumult wurde immer lauter und jetzt konnte ich einzelne Rufe verstehen.
»Mann, immer diese Verrückten zu Vollmond.«
»Der hat aber auch Kraft.«
»Und dabei haben wir den schon abgeschossen!«
»Arouuuu!«
Das letzte war ein lang gezogenes Heulen, das nur entfernt menschlich klang. Dann hörte ich einen Schmerzensschrei, eine Liege poltern und schließlich bog etwas auf allen vieren im gestreckten Galopp um die Ecke. Auf den ersten Blick dachte ich, es wäre ein langhaariger Hund, aber als es kurz innehielt, erkannte ich einen nackten Mann mit langen, verfilzten Haaren, einem dichten Vollbart und beeindruckender Körperbehaarung. Er jaulte kurz auf, sah mich und stürmte auf allen vieren auf mich zu.
»Robert, halt den fest!«, rief eine Stimme, aber Robert war wie ich eine viel zu lange Sekunde wie gelähmt von dem Anblick. Dann sprang der Kerl mich an, riss mich mitsamt Stuhl um und versuchte, mich in den Hals zu beißen. Ich schrie wie ein kleines Mädchen, hatte aber noch genug Geistesgegenwart, dem Mann mit beiden Händen an den Haaren zu packen und von mir wegzuhalten. Seine Zähne, die wie bei einem Vampirkostüm verlängert wirkten, schlugen knallend aufeinander und er wand sich wütend.
»Hilfe«, krächzte ich und versuchte meine Beine zwischen den Mann und mich zu bekommen, aber er war unglaublich stark. Mit einem lauten Ratschen rissen die Haare, die ich in der rechten Hand hielt, vom Kopf ab und er zuckte vor. Ich riss umso stärker an dem anderen Strang, tastete nach dem Klemmbrett und schaffte es, ihm das Ding im allerletzen Moment in den Mund zu stopfen. Der Mann bäumte sich wütend auf und schüttelte den Kopf, wie ein Alligator, der ein Stück Fleisch aus seinem Opfer reißen will.
Da erst erreichten uns die Pfleger, die sich zu dritt auf den Mann stürzten und ihn von mir runterzerrten. Als sie im Flur verschwunden waren, trat Robert zu mir und half mir hoch, stellte den Stuhl auf und setzte mich darauf.
»Alles in Ordnung?«, fragte er mitfühlend.
»Warum immer ich?«, wimmerte ich leise.
»Na, na, wird schon wieder.« Er tätschelte mir den Rücken. »Sind Sie verletzt?«
Ich horchte kurz in mich hinein, aber außer der Last, Prügelknabe des Schicksals zu sein, waren keine Schmerzen zu finden. Also schüttelte ich den Kopf.
»Na sehen Sie. Tut mir sehr leid, aber solche Verrückten kriechen bei Vollmond immer aus ihren Löchern. Der glaubt, ein Werwolf zu sein.« Robert machte eine kreisende Bewegung mit dem Finger an seiner Schläfe und pfiff eine kleine Melodie.
Er hob das Klemmbrett mit meinem Formular auf und reichte es mir. Das Adrenalin ließ meine Hände zittern, aber ich füllte es trotzdem aus.
»Vorname: Klaus, Nachnahme: Hol(Zahnabdruck)ger.« Mein Blick blieb an dem Loch hängen, um das ich herumgeschrieben hatte und meine Zunge fuhr über meine eigenen Schneidezähne. Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Der Kerl hatte durch mehrere Blätter, zwei Lagen Plastik und eine dicke Pappplatte hindurchgebissen. Er hatte wohl im wahrsten Wortsinn wahnsinnige Kräfte. Mir lief ein eisiger Schauder über den Rücken und erst jetzt bemerkte ich, dass das junge Paar mich die ganze Zeit anstarrte.
Ich erwiderte den Blick fragend, was der junge Mann, Generation Counterstrike, nach der auf den Haaren schwebenden Baseballkappe und der Hose in den Kniekehlen zu urteilen, zum Anlass nahm, zu mir zu kommen.
»Geiler Stunt, Alter!«
Ich nickte unverbindlich. Solche Leute sollte man nicht provozieren.
»Kopfschmerzen?«
Da ging es schon los. Unverfrorenheit, mir im Krankenhaus Prügel anzudrohen. Ich spürte, wie die Wut sich durch den Wattebausch des Entsetzens brannte. »Jetzt pass mal auf, du kleiner …«
»Ey«, sagte er und hob beschwichtigend die Hände. »Ich mein ja nur.« Er wies zur Seite und ich folgte seinem Blick. Einer der großen, mit Granulat gefüllten Töpfe mit künstlichen Palmen drin war eingedrückt und ab und an fiel leise klingend eine der braunen Kugeln heraus.
»Hä?«, bewies ich meine schnelle Auffassungsgabe.
»Ey, du hast das Ding mit dem Kopf eingeschlagen, als du dich langgemacht hast.«
Ich blickte auf den Topf, auf den aufgestellten Stuhl, schätzte die Entfernung ab und fasste mir schließlich an den Hinterkopf. Da war eine kleine Beule und ich kämmte einige Tonsplitter aus meinem Haar.
»Ich bin … dagegen?«
Der Mann nickte und hielt die Faust hoch. Ich zuckte zurück, noch immer Dresche befürchtend, aber dann verstand ich und tippte meine eigene Faust dagegen.
»Shaolin Eisenschädeltechnik, Alter!«, wurde ich gelobt und verstand die Welt nicht mehr. Ich bekam schon blaue Flecken in der Größe von Luxemburg, wenn ich mich an der Türklinke stieß, und jetzt sollte ich einen Blumenkopf auf Zidane-Art erledigt haben, ohne einen Schädelbasisbruch erlitten zu haben?
»Herr Klaus?«
»Holger. Klaus ist der Vorname«, korrigierte ich Robert automatisch, ohne den Blick von dem Topf zu wenden.
»Sie können jetzt durchkommen.«
Ich nickte, zögerte noch einen Augenblick, riss mich dann aber los. Es schien, als müsste ich mich damit abfinden, dass mir seltsame und unerklärliche Dinge passierten. Aber man musste das Positive sehen … alles war besser, als zuhause Berlin – Tag und Nacht gucken zu müssen.

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